home
linx
       
 
Arnold Böcklin
Serge Brignoni
Giorgia O´Keeffe
Alberto Giacometti
Albrecht Dürer
Alejandra Pizarnik
Anton Faistauer
Pierre Bonnard
Bruno Gironcoli
Dora Carrington
Leonora Carrington
Cecily Brown
Willem De Kooning
Ernst Deutsch
Jean Dubuffet
Elise Engler
Wolfgang Ellenrieder
Emily Carr
Fernando Botero
Franz Gertsch
Caspar David Friedrich
Gisèle van Waterschoot
Jochen Gerz
John William Godward
Maurizio Cattelan
Pawel Nikolajewitsch Filo
Stephen Conroy

 

 

Jean Dubuffet (1901 - 1985)

File written by Adobe Photoshop® 4.0

Jean Dubuffet wurde am 31. Juli 1901 in Le Havre geboren, seine Eltern waren Weinhändler. Mit 18 kommt er nach Paris und besucht sechs Monate lang die Académie Julian, die er schließlich verlässt, um für sich zu arbeiten. Zwischen 1925 und 1932 ist er im Familienbetrieb tätig und lässt die Malerei acht Jahre lang ruhen. In Paris beginnt er wieder mit dem Malen. Von 1937 bis 1939 übernimmt er den elterlichen Betrieb, die Malerei ruht erneut.

1942 ist ein entscheidendes Jahr für Dubuffet. Der 41-Jährige überlässt den Weinhandel einem Prokuristen und widmet sich endgültig der Malerei.

1944 erste Ausstellung in der Galerie René Drouin, die heftige Reaktionen auslöst.

1945 erste Reise in die Schweiz auf der Suche nach ,,Art Brut".

1946 Veröffentlichung von PROSPECTUS AUX AMATEURS DE TOUT GENRE bei Gallimard.

1947-1950 Verkauf der elterlichen Weinhandlung und Aufenthalt in der algerischen Sahara. Gründung der Compagnie de l'Art Brut . Veröffentlichung eines ersten im Jargon geschriebenen Textes; ausserdem von L'ART BRUTE PRÉFÉRÉ AUX ARTS CULTURELS.

Erste Ausstellung in New York, in der Galerie Pierre Matisse. Im November 1951 hält er die Rede ANTICULTURAL POSITIONS.

1960-1961 Aufbau von Archiven und eines Sekretariats in Paris. Musikalische Experimente. Bedeutende Retrospektive im Musée des Arts décoratifs .

1962 Rückkehr der Collection de l'Art Brut nach Paris (nach einer Reise in die USA)

1974 Beendigung des Zyklus L'HOURLOUPE. Gründung der Stiftung Fondation Dubuffet.

1975-1977 Einstellung des Baus des Salon d'Été. Prozess. Verlegung der Collection de l'Art Brut nach Lausanne.

1983 Der französische Staat äussert die Absicht, in Paris eine Skulptur aufzustellen. Jean Dubuffet schlägt La Tour aux Figures vor .

1984 Dubuffet stellt die Malerei ein.

1985 Besuch des ausgewählten Standortes für La Tour aux Figures (auf der Ile Saingermain in Issy-les-Moulineaux).

1985 Am 12. Mai stirbt Jean Dubuffet in Paris.

6. September 2003,  02:19, Neue Zürcher Zeitung

Schmetterlinge fliegen lassen

Auf den Spuren von Jean Dubuffet

 

In Reden und brillanten Essays polemisierte Jean Dubuffet gegen den Professionalismus in der «kulturellen Kunst». Er hatte erkannt, dass «Millionen von Ausdrucksmöglichkeiten existieren abseits der bekannten Hauptstrasse der Kultur». Er wollte beim Betrachter «eine Erneuerung seiner Sehgewohnheiten bewirken» und glaubte, dass es über das Sehen auch zu einer Erneuerung des Denkens kommen könne. Eine Spurensuche - nicht nur in Paris.

 

Von Burkhard Brunn

«Das bin ich!» Die Kleine zeigt auf ein Strichmännchen. «Und was ist das?», frage ich. Das Zünglein im Mundwinkel, malt sie mit Buntstiften eifrig an einem merkwürdigen Gebilde. «Das ist ein Schiff.» Ein Schiff? Wir befinden uns im Zug nach Lausanne. Die junge Mutter hängt mit geschlossenen Augen am Walkman. - «Jeder Mensch kann malen, wie jeder Mensch sprechen kann.» Der provokative Satz ist Programm. In Reden und brillanten Essays polemisierte Jean Dubuffet gegen den Professionalismus in der «kulturellen Kunst». «Typisch für die Kultur ist, dass sie Schmetterlinge nicht fliegen lassen kann. Sie ruht nicht eher, als bis sie aufgespiesst und etikettiert sind. Das ursprüngliche, massenhafte Gewimmel, der fruchtbare Humus, auf dem tausend Blumen wachsen können, wird von der Kulturpropaganda nicht gepflegt.» «Aufspiessen», damit meinte er das Registrieren, Analysieren, Klassifizieren, Hierarchisieren, Evaluieren, d. h. das Zuschnappen der kulturellen Begriffssysteme, das dafür sorgt, dass die «kulturelle Kunst» bloss tote Schmetterlinge hervorbringt.

«Ich bin eher für das Durcheinander», schrieb Dubuffet. Warum? Eben weil für ihn «die unendliche, horizontal ausgebreitete Vielfalt unterschiedlicher Dinge» das Leben selber ausmacht. In der ihm eigenen luziden und anmutigen Ausdrucksweise schrieb er einmal, man dürfe «den Wind nicht vom Baum trennen». Lebendige Realität war für ihn nur das «gleichzeitige Nebeneinander der Vielfalt». Es ist in allen Werkphasen die durchgehende Dimension. Heterogenität gegen Homogenität - gegen die Reinheit, die in vielerlei Hinsicht eine unrühmliche Geschichte hat. Längst berühmt, verstand Jean Dubuffet sich doch so sehr als Amateur, dass er es ablehnte, zwischen «Berufskünstlern» auszustellen. Und im Museum schon gar nicht. Zu Vernissagen erschien er nicht. Ehrungen lehnte er ab. Seine Bilder verkaufte er ungern. Er wollte Outsider bleiben, nicht integriert in den Kulturbetrieb. «Fixierung des Denkens, Blei an den Flügeln, das ist der Kulturapparat», schrieb er. 1945 erfand Dubuffet für die nicht angepasste Kunst den Namen «Art brut».

FREI SEIN VON NORMEN

 

Im Château Beaulieu, einem hübschen Gebäude aus dem 18. Jahrhundert, ist das «Antimuseum» untergebracht. Jean Dubuffet hat seine «Collection de l'Art Brut» der Stadt Lausanne vermacht, denn viele Art-brut-Künstler stammten aus der Schweiz. Aber wohl auch, weil der Pariser Stadtrat sich für die sonderbare Sammlung nicht interessierte. Was sind das für Künstler? Museumsdirektorin Lucienne Peiry: «Das sind Autodidakten, die den kulturellen und sozialen Mechanismen entkommen sind, d. h. Einzelgänger, Nichtangepasste, Anstalts- und Gefängnisinsassen, Medien, d. h. Menschen, die Verbindungen zu Geistern und den Toten unterhalten, exzentrische Personen, alles Menschen, die als  bezeichnet werden.» Das «Antimuseum» ist gut besucht. Bei meinem ersten Rundgang durch das dreistöckige, durch Galerien offen strukturierte Haus notiere ich mir - von aufgeregten Kindern umflüstert - aus den Lebensläufen der Künstler: «Einweisung in die psychiatrische Anstalt», «blind», «taub», «als zurückgeblieben eingestuft», «autistisch», «Waise», «Heim», «Vater Säufer, Mutter tot». Einer wurde eingewiesen, weil er einen Zug entgleisen liess. Unangepasst, weil kreativ? Oder kreativ, weil unangepasst?

Dubuffet hatte, durch Hans Prinzhorns «Bildnerei der Geisteskranken» beeindruckt, schon 1924 erkannt, dass «Millionen von Ausdrucksmöglichkeiten existieren abseits der bekannten Hauptstrasse der Kultur». Er stand seitdem mit Psychiatern in Verbindung, die ihm Werke der abseitigen Kreativen vermittelten. Unter den erstaunlichen Bildern und Objekten fällt mir besonders ein vogelnestartig fein verstrebtes Gebilde aus dünn geschabten Rinderknochen auf, das mich an ein Gefängnis denken lässt: «Le nouveau monde» des Carabiniere Francesco Toris (1863 bis 1918), Insasse der Turiner Irrenanstalt. Mögen die Künstler der Art brut, denke ich, vielleicht frei sein von den Normen der bürgerlichen Welt, so scheint es mir doch, als wären sie dafür oft in den Grenzen ihres isolierten Bewusstseins gefangen. Mit naiver Kunst hat Art brut jedenfalls nichts zu tun, denn jene sucht sich mit dem Charme ihrer geringen Mittel der Welt anzupassen. Art brut dagegen bleibt unbeugsam.

Auf die oft gestellte Frage, ob er, Jean Dubuffet, selber Art brut mache: «Diesen Anspruch wage ich nicht. Ich fürchte, so weit bin ich nicht gekommen.» Und er nennt die «Heroen der Art brut» seine «Vorbilder». Der Künstler, der heute neben Picasso und Giacometti zu den Grossen der europäischen Kunst zählt, mochte damit meinen, dass es ihm nicht gelungen war - und als einem hochgebildeten, vielsprachigen Menschen auch nicht gelingen konnte -, sich ganz von den Konditionierungen der offiziellen Kultur frei zu machen.

Als Dubuffet 1944 seine Existenz als Weingrosshändler endgültig aufgegeben hatte und - schon 43 Jahre alt - zum ersten Mal in der Pariser Galerie Drouin ausstellte, machten seine Strichmännchen einen derartigen Skandal, dass sie von der Polizei bewacht werden mussten. Anlässlich einer Ausstellung in New York meinte ein boshafter Kritiker: «Kinderzeichnungen haben Charme. Zeichnungen eines alten Kindes amüsieren nicht mehr.» Doch hat nicht Picasso gesagt, er habe ein ganzes Leben gebraucht, um wie ein Kind malen zu können? Es geht den Grossen der Kunst darum, die Unschuld und die Freiheit zurückzugewinnen, ein Terrain, das noch nicht von sozialen Werten und Normen kontaminiert ist. «Ich will die Dinge an ihren Ausgangspunkt zurückversetzen, an ihren Nullpunkt, bevor sie Vokabular geworden sind.» Das heisst: bevor der analytische Geist der Sprache die Schmetterlinge «aufgespiesst» hat.

HERVORRAGENDER MANAGER

 

Seine «Collection de l'Art Brut» hatte Dubuffet zuvor in der Rue de Sèvres Nr. 137 untergebracht. In dem mitten in Paris hinter einem kleinen, jasminduftenden Garten verborgenen Haus befindet sich jetzt die «Fondation Jean Dubuffet», die gerade eine repräsentative Übersicht seiner Arbeiten zeigt. Der Künstler hat dafür gesorgt, dass sein Werk auch nach seinem Tode unabhängig vom kommerziellen Betrieb der Öffentlichkeit zugänglich bleibt. Die Fondation besitzt über 1000 Arbeiten aus allen Werkphasen. Die vorausschauende Sicherung seiner Hinterlassenschaft und die Organisation seiner Grossprojekte aus dem L'Hourloupe-Zyklus - jene puzzleartigen zellularen Zusammenhänge, die zuerst auf einer Serviette, dann auf Leinwänden, auf Wänden, schliesslich als begehbare Architektur («Villa Falbala») und sogar als bewegliches Theater («Coucou Bazar») sich zu einem eigenen Kosmos ausweiten, in welchem das Publikum die Orientierung verliert - mögen der Bemerkung von Kurt Wyss Recht geben. Dubuffets Photograph sagte mir in Basel: «Er war auch ein hervorragender Manager.» Anders als der gleichaltrige Giacometti, der mit seinem Bruder Diego in einem Loch hauste, verstand es Dubuffet, seine Arbeit und sein Leben zu organisieren. Ja, auch sein Leben. Der «Vertreter der Unordnung» (J. D.) war ein ordentlicher Mensch.

Ich sehe in der Rue Lhomond, wo der Künstler von 1935 bis 1944 wohnte und arbeitete, zum Atelierfenster hinauf. Dort muss es gewesen sein, dass er Le Corbusier ein Bild schenkte, weil das Verkaufen ihm unanständig erschien. Er wohnte in der Nr. 34 und arbeitete in der Nr. 35. Die alten, kleinstädtisch wirkenden Häuser stehen einander dicht gegenüber. Um zur geliebten Lilli zu kommen, brauchte er nur über die Strasse zu springen. «War es ein glückliches Verhältnis?», frage ich Madame Armande de Trentinian- Ponge, Dubuffets engste Mitarbeiterin und lange Direktorin der Fondation: «Ja, sehr!», sagt sie lächelnd. Übrigens hat Dubuffet seine Bilder immer wieder als ein «Fest» bezeichnet. Er wollte, dass nicht nur er, sondern auch die anderen sich freuten. In Madame de Trentinians Wohnung steht auf einer Staffelei ein Bild aus der letzten Serie der «Non-lieux». Der Hintergrund ist schwarz, und mit der Fröhlichkeit ist es vorbei. 1984, kurz vor seinem Tode, bezeichnete sich Dubuffet oft als Nihilisten, der die etablierte Wirklichkeit als illusionär betrachtete und die Unterscheidung zwischen Sein und Nichtsein nicht mehr gelten liess.

Vor dem Haus in der Rue de Vaugirard 114bis, in dem er die längste Zeit wohnte und 1985 gestorben ist, treffe ich auf einen Geschäftsmann aus dem Viertel, der sich an Dubuffet erinnert: «Ein grosser Künstler, ein grosser Mann!» Er sagt mir, dass die Ateliers im hinteren Haus heute nicht mehr existieren. Es war dort nach dem Kriege so kalt, dass Dubuffet mit Lilli in die Sahara floh und sich für die Spuren im Wüstensand begeisterte. Als ich die neuen Pariser Papierkörbe sehe: grüne durchsichtige Säcke mit der Aufschrift «Vigilance Propreté», fällt mir der kleine Film ein: Dubuffet verlässt in Hut und Regenmantel - er ging stets sehr korrekt gekleidet - sein Haus in Vence (bei Nizza), lüftet den Deckel einer Mülltonne, sucht wie selbstverständlich darin herum und lässt etwas in die Tasche seines Trenchcoats gleiten. Er hat etwas für seine Assemblagen gefunden. Denn für ihn waren Collage und Assemblage die adäquaten Methoden, ungewohnte Zusammenhänge herzustellen. «Ich glaube, das Unpassende ist ein wirksames Mittel.» «Kakaismus!», heulte die Kritik angesichts seiner ersten Materialbilder, als er in den «hautes pâtes» Ölfarbe mit Dreck gemischt hatte. Die dichotomischen Unterscheidungen hässlich und schön, gut und böse, wahr und falsch erklärte er zu reiner Konvention, die er nicht anerkannte. Die «Corps de Dames» sind denn auch grotesk anmutende Frauenkörper, die eher wie schrundige Landschaften aussehen. Ein Kritiker meinte, Dubuffet habe die Pariserinnen platt gemacht wie Crêpes.

ALLES IST SCHÖN

 

Der Körper der Frau, war er nicht in der abendländischen Kultur zum Schönen schlechthin stilisiert worden? Alles ist schön, meinte der Künstler, alles. Was er wollte, ist, «beim Betrachter eine Erneuerung seiner Sehgewohnheiten zu bewirken». Und da Sehen und Denken eng miteinander verflochten sind, würde es, wie er glaubte, über das Sehen auch zu einer Erneuerung des Denkens kommen können. Aber er lebte und kleidete sich wie ein Bourgeois. Andreas Franzke, dem wir die Herausgabe einer Auswahl aus Dubuffets umfangreichen Schriften verdanken, erzählte mir über den Freund: «Bei Dubuffet waren das Private und das Professionelle sehr getrennt. Man wurde nur ausnahmsweise in den Salon gebeten, und bei Tisch wurde über Kunst nicht gesprochen.» Er hatte in seiner Vaterstadt Le Havre, wo er in gutbürgerlichen Verhältnissen aufgewachsen war, das humanistische Gymnasium besucht - zusammen mit dem mit ihm befreundeten Sprachkünstler Raymond Queneau. Franzke erinnert sich, dass er «Lateinisch sprach wie unsereiner Englisch». Dubuffet war stets der Beste, erinnern sich alte Freunde.

Später sprach er nicht nur viele Sprachen, sondern interessierte sich besonders für die Umgangssprache und verfasste mehrere kleine Werke in phonetischer Schrift, d. h., auch hier suchte er, den Regeln zu entkommen und am sinnlich Unmittelbaren zu beginnen. Er hatte Orgelspielen gelernt, machte aber zusammen mit dem Maler Asger Jorn eine Musik, die aus Geräuschen bestand. Geräusche waren für ihn ein Stück Leben, Musik aus Tönen dagegen eine Abstraktion. Bevor er den realitätsabgehobenen Kosmos L'Hourloupe entwickelte, war es stets das Alltägliche, Unbeachtete, das ihn anzog: Graffiti, Kinderzeichnungen, Marktbudenschilder, die Oberflächen von Mauern und Strassen. Mit Freunden im Auto unterwegs, hielt er fortwährend an, um irgendein kleines Ensemble von Steinchen, Gräsern und Überbleibseln zu untersuchen, stets das, was als nebensächlich gilt.

Um aus dem System L'Hourloupe sein totales Theater «Coucou Bazar» zu entwickeln, das seine Bilder beweglich machte - die durch Wyss' Vermittlung von Basler Fasnachtskünstlern kostümierten Tänzer unterschieden sich von den Kulissen nur dadurch, dass sie sich bewegten -, musste er riesige Hallen anmieten, z. B. die Cartoucherie im Park von Vincennes. Man fährt dorthin mit der Metro Linie 1, diesem wunderbaren, nicht in Waggons abgeteilten Zug, der eine 250 Meter lange Durchsicht erlaubt. So geschieht es, dass ein weit entfernter Musette-Walzer langsam näherkommend sich zuletzt konkretisiert: Ein junger Russe spielt auf seiner Ziehharmonika. In der Cartoucherie liess Dubuffet die Maquetten seiner Projekte mit Hilfe eines Pantographen vergrössern und in Puzzlestücke umsetzen, die mit einem glühenden Draht aus Polyester herausgeschnitten wurden. Ich wollte den Ort sehen, wo er mit wechselnden, bis zu 20 Mann starken Equipen von Handwerkern, Technikern und Künstlern gearbeitet hat. Nach «Coucou Bazar», der nach einem Desaster im Grand Palais erst 1978 in Turin zu Dubuffets Zufriedenheit aufgeführt worden war, befinden sich dort heute diverse Theater, darunter das «théâtre de soleil». Kostümierte Schauspieler sitzen an ihren Wohnwagen und lesen ihre Rollen zwischen spielenden Kindern.

WIDERSPRÜCHLICHKEITEN

 

Dubuffet hatte seine Arbeiten in den renommiertesten Kunsttempeln gezeigt: im MoMA, im Guggenheim, auf der Documenta und der venezianischen Biennale. Der Kulturapparat hat inzwischen auch sein Werk ergriffen und beginnt es zu verdauen. Als ich Madame de Trentinian frage, ob ihn die Anerkennung verdross, meint sie: «Ja und nein.» Für Dubuffet war die Anerkennung der Beweis, dass er sich vom Gewohnten noch nicht völlig frei gemacht hatte. Erntete er dagegen Ablehnung, «fühle ich mich», wie er schrieb, «in jeder Hinsicht bestätigt, aber gleichzeitig verbittert durch die öffentliche Missachtung». Mit dieser Widersprüchlichkeit lebte er. Dubuffet wusste, dass auch seine widerborstigen Werke irgendwann der «kulturellen Kunst» angehören würden. «Ich weiss zwar, dass wir uns niemals vollständig von der Konditionierung und der Bezugnahme auf die Kultur befreien können. Aber dass wir es nicht restlos können, hindert uns nicht, dass wir es bis zu einem gewissen Grade versuchen.» Er wusste um die Unmöglichkeit und tat es trotz- dem. Heroismus? Anspruchsvolle Bescheidenheit? Es geht um die Freiheit. «Jeder Mensch ist ein Künstler» - das Joseph Beuys zugeschriebene Wort stammt ursprünglich von Dubuffet.

Peter Gorsen:

"Graffiti und Art Brut"

Es geht im folgenden nicht darum, Graffiti durch einen Vergleich mit der Kunst der Irren oder der Bildnerei der Geisteskranken zu pathologisieren. Dies wäre heute schon wegen der stattgefundenen Integration des Graffito in die nicht mehr schönen Künste und ihre ästhetischen Grenzüberschreitungen, wie Arbeiten von Fautrier, Mathieu, Wols, Dubuffet, Tapies, Twombly, Penck, Vautier zeigen können, völlig absurd. Außerdem ist das Graffito aus der Vor- und Frühgeschichte der bildenden Kunst nicht wegdenkbar. Es geht im folgenden auch nicht darum, dass eingekerkerte oder hospitalisierte psychotische Menschen in ihrer visuellen Umgebung gelegentlich Graffiti hinterlassen haben und dies bis heute illegal oder legal in eigens vorgesehenen Ateliers und auf kontrollierten Flächen tun. Spontane Kratz- und Kritzel-Graffiti sind in der Art Brut von Gaston Chaissac bis August Walla häufig anzutreffen. Hier wie dort geht es um Direktheit und Schnelligkeit der Ausdrucksübertragung ohne komplizierte, technische Präparation des Untergrundes. Zur Kultur der Grundierung trugen eher ungewollt die Ordnungsbehörden mit ihren Reinigungsprozeduren bei.

Viel mehr interessiert uns, ob und wie Graffitisten und Artbrutisten in einer vergleichbaren Position der kulturellen Ausgegrenztheit wirken und kreativ werden. Beide, Graffitisten und Artbrutisten, arbeiten nicht in der Konvention der Stilkunst. Ihre Stiladaptionen sind selektiv und transformativ, wenn man beispielsweise an die Einflüsse der Pop Art denkt, die mehr aus der Ästhetik des Alltagslebens als aus der Kunstgeschichte schöpfte. Graffitisten und Artbrutisten sind durch keinen Kunststil gebunden. Diese Unabhängigkeit und dieses Außenseitertum gilt es zu beleuchten.

Jean Dubuffet hat erstmals 1947 zwei Ordnungen in der Kunst festgestellt: Es gibt die gewohnte Kunst (oder die geschliffene) (oder die vollkommene) (sie wurde, je nach der Mode der Zeit, klassische, romantische, barocke Kunst oder wie auch immer getauft, aber es ist immer die gleiche, und es gibt Art Brut, Kunst in der Rohform (die ungezähmt und flüchtig ist wie ein Reh).  Verstanden werden darunter Werke von Personen, die unberührt von der kulturellen Kunst geblieben sind, bei denen also Anpassung und Nachahmung gegenüber den Traditionen von Stil und Volkskunst gleichermaßen kaum eine oder gar keine Rolle spielen. Die Autoren dieser Kunst beziehen also alles (Themen, Auswahl der verwendeten Materialien, Mittel der Umsetzung, Rhythmik, zeichnerische Handschrift usw.) aus ihrem eigenen Inneren und nicht aus den Klischees der klassischen Kunst oder der gerade aktuellen Kunstströmung."

Dubuffet hatte seine intensive Sammeltätigkeit der für Art Brut erkannten Werke in den folgenden Jahren zu einer Kritik am damals inflationären Informell und Tachismus erweitert. Es kam darüber hinaus zu einer prinzipiellen Verurteilung aller institutionalisierten Formen der Kunst und der Kunstmarkt-Kunst, denen er die aus eigenem Antrieb entstandene Art Brut, ein subversives Potential kulturell unabhängiger Phantasien gegenüberstellte. Dubuffet hielt dieses Potential wie überhaupt die Antriebe zum künstlerischen Schaffen nicht für ein Privileg außergewöhnlicher Individuen, sondern sie seien in allen Menschen reichlich vorhanden. Die herrschende Kunstszene sei von anerkannten Mythen, sozialen und kulturellen Leitbildern viel zu sehr konditioniert und verunstaltet. Ziel unseres Unternehmens ist die Suche nach Werken, die dieser Konditionierung so weit wie möglich entgangen sind und aus denen wirklich neue geistige Auffassungen hervorgehen, grundsätzlich verschieden von dem, was wir gewohnt sind.

So avancierte die Art Brut zum Modellfall und Vorbild einer gesellschaftlich unangepassten, kulturkritischen bis kulturfeindlichen Einstellung. Dubuffet verbindet mit seinem Playdoyer für die Unangepasstheit  ein echtes schöpferisches Bedürfnis (in das sich kein Konkurrenzdenken, kein Streben nach Applaus und sozialem Fortkommen mischt) und das insofern wertvoller erscheint als die Werke von professionellen Künstlern. Die Artbrutisten werden zu Meister(n) der Nichtanpassung par excellence, zu Bannerträger(n) des persönlichen und nicht konditionierten Denkens stilisiert. Die Quelle ihrer Inspirationen, zunächst noch das eigene Innere, wird nun lebensphilosophisch für alle potentiell kreativen Menschen verallgemeinert und Dubuffet macht sich zu ihrem Sprecher: Ich sehne mich nach einer Kunst, die direkt aus unserem gewöhnlichen Leben wächst, einer Kunst, die von diesem gewohnten Leben ausgeht und unmittelbar aus unserem wirklichen Leben und unseren wirklichen Stimmungen strömt.

Der Kulturtheoretiker Dubuffet beharrte zeitlebens auf der Vorbildfunktion der Art Brut, deren Selbständigkeit er zur institutionalisierten Kunst und Kultur disfunktional, provokativ und subversiv gerichtet begriff. Er postulierte eine Alternative zur Vereinnahmung in die Kunstmarkt-Kunst, in den Ausstellungsbetrieb der Galerien und etablierten Museen. Er hielt am Standpunkt einer souveränen, nicht kulturellen oder antikulturellen Außenseiterkunst fest, obwohl die Vergeblichkeit dieses kompromisslosen Ansatzes schon angesichts der globalen Visualisierung, der "Art autre" (Michel Tapies), durch die Medien längst erwiesen ist. Eine Rechtfertigung der Art Brut hat sich in unserer erlebniszentrierten totalitären Mediengesellschaft inzwischen ebenso erledigt wie die einst von Dadaisten und Surrealisten festgestellte, zuletzt noch von Dubuffet angeführte Subversivität gegenüber der institutionalisierten Art Culturel. Die von Warhol prophezeite Integration in ein "all is pretty" umfasst heute auch die Kunst der Außenseiter und zustandsgebundenen Einzelgänger. In den großen postmodernen Themenausstellungen der letzten Jahre erscheint sie weder im negativen noch im positiven Sinne mehr ausgegrenzt, sondern einfach nur kulturell nivelliert. In den meisten Museumspräsentationen triumphiert das neue konfuse Gemisch von Art Brut und Art Culturel.

Und wie ist es um das Außenseitertum der Graffitisten im 20. Jahrhundert bestellt? Auch hier lassen sich für die zweite Jahrhunderthälfte kulturelle Ausgegrenztheit und subversive, antiinstitutionelle Positionen feststellen, die nach Johannes Stahls historischem Überblick auf dem Marsch durch die Institutionen allerdings spätestens in den achtziger Jahren ihre Authentizität als Gegenkultur verloren haben und zu einem Bestandteil unserer Kultur geworden sind.

Niemand mag den Graffiti heute noch generell Ausdrucksqualitäten absprechen. Dennoch verbindet sich ihr jeweiliger Genius loci in der Geschichte von den frühen Höhlenzeichnungen bis zu den heutigen U-Bahnbildern mit einer Anarchie der Form oder zumindest einer Souveränität gegenüber dem Establishment der Formen und Stile in der Kunstgeschichte. Diese Souveränität, wie immer sie kulturell und politisch begründet sein mag, kann jederzeit zusammenfallen oder liquidiert werden. Aber selbst dann, wenn die Öffentlichkeit die Graffiti als vitale Lebenszeichen oder Kunst anerkannt, legitimiert hat, wenn ihre opponierenden, illegalen, obszönen Anteile entgiftet sind, können wir den Gedanken des Informalismus, der Anti-Form, nicht ganz aus dem Graffito-Phänomen verbannen. Vielleicht weil wir uns die sexuelle Grundlage der Graffiti als ein vorwärtsdrängendes, motorisches Moment (Freud) denken, das mit einem triebhemmenden, konservativen Element, sei es in Gestalt der Scham oder eines Tabus, auf ein sozio-kulturelles Ziel hin zum Ausgleich kommt. Das Kulturphänomen Graffiti ist ästhetisch betrachtet ein Ambivalenzkonflikt zwischen Antiform und Form, der in einem Kompromiss befriedet werden kann. Das integrierte, akzeptierte Kunst-Graffito ist eine Tatsache, aber ich kann mir keine Graffiti vorstellen, die ihre Herkunft aus der Infantilität und Anarchie des Triebes verleugnen und nicht gegen die verbrauchte Schauseite der Kunst und Alltagsästhetik stehen. Das Drängen auf immer neue Erscheinungsformen, der latente Hass gegen alles bereits Legalisierte, gefestigt Bestehende, den Georg Simmel für den permanenten, kreativen Modewechsel geltend macht, hat auch bei den Graffiti seinen Grund in der kulturell ausgegrenzten, anarchischen Lebensform, dem Pariadasein, das die Gesellschaft den Graffitisten zuweist. Der Aggressions- und Zerstörungstrieb, der für alle Pariaexistenzen typisch zu sein scheint, findet im illegalen Besprühen öffentlicher Fassaden, Wände und Verkehrsmittel seine kompromißhafte sexuelle Befriedigung.

Es ist aus der Geschichte bekannt, dass die insurgierende Triebbasis der Graffiti vielen Jugend- und Protestkulturen zu Elan und Ausdauer bei der Durchsetzung ihrer Ziele verholfen hat. Vor allem in den sechziger und Anfang der siebziger Jahre standen Graffiti neben Postern, Plakaten, Flugblättern und Straßentheater in einem politischen Zusammenhang. Obszöne Karikaturen und gekritzelte Protestnoten signalisierten wahrend der Pariser Barrikadennächte die sozialen (nicht ästhetischen) Ziele der antiinstitutionellen Aktionskunst. Die Attacke gegen den Warencharakter der Welt fand im Decollagismus der Happenings, im Zerreißen, Verdrecken, Überzeichnen der plakatierten Reklameflächen, ihre Fortsetzung. Die frei flottierende Libido der Graffiti wurde teilweise in die kulturrevolutionäre Praxis der Happenings und Fluxus-Bewegung einbezogen und als operative Methode gegen die Institutionalisierung der seriösen Kunst (Oper, Theater), gegen den Kunstprofessionalismus, gegen Kunst als kommerzieller Artikel oder Weg zum Lebensunterhalt, ... gegen jede Form der Kunst, die das Künstler-Ego fördert, mobilisiert (Wolf Vostell, George Maciunas).

Zu erinnern ist auch an Harald Naegeli, den zunächst in der Anonymität der subkulturellen Praxis arbeitenden Sprayer von Zürich, der über seinen künstlerisch herausragenden Personalstil vom Erkennungsdienst ermittelt und schadenersatzpflichtig gemacht werden konnte. Naegeli repräsentiert den Prototyp des Graffitisten mit politischer Botschaft, der nicht sein Künstler-Ego, einen Namen oder Produkt verkauft, sondern auf die urbane Katastrophe der industriellen Umwelt reagiert, auf die Verbetonierung menschlichen Lebensraums und die chemische Vergiftung ihrer Gewässer (1986 anlässlich der Rheinverunreinigung durch die Firma Sandoz). Naegeli hat mit seinen niemanden und allen gehörenden Graphismen das Problem von Kunst im öffentlichen Raum neu aufgeworfen und die politische Instrumentalisierung der Graffiti in den siebziger und achtziger Jahren wie kein Zweiter angeregt. Gegenüber der New Yorker Graffiti-Szene, ihrem Hang zum Exhibitionismus der Writer-Signatur und des Stylings, ihrer Zusammenarbeit mit Galerien, die die Spraykünstler zu Tafelbildern und Flirts mit der Pop Art führte, erscheint das kulturrevolutionäre Engagement der Graffiti als eine rein europäische Angelegenheit. Die das Alltagsgraffito einbeziehenden Plakat-Wandbilder und Shit-Collagen der New Yorker NO! art-Bewegung von Sam Goodman, Stanley Fisher und Boris Lurie waren in den sechziger Jahren eine Ausnahmeerscheinung. Ihre mit obszönem Material assoziierten Verweigerungsgesten blieben ohne Resonanz, ein aus der marktorientierten Kunst sich selbst ausschließender politpornographischer Aktionismus.

Die Inhaltlichkeit, das Botschaftertum der kulturrevolutionären Graffiti ist den auf Namenszügen, Zeichen und Kürzeln aus dem Comic-Strip, dem sexuellen und pornographischen Underground entnommenen, manieriert stilisierten Graphismen der New Yorker Graffiti-Szene der siebziger Jahre völlig fremd. Ihre andere Art von Subversivität hat Jean Baudrillard darin gesehen, dass sie keinen Inhalt, keine Botschaft mehr, weder ein Ziel, noch eine Ideologie haben. Es ist diese Leere, die ihre Kraft ausmacht. Als bedeutungsleere Zeichen oder leere Signifikanten verbreiten sich die Graffiti mit Hilfe der hin und herfahrenden U-Bahnzüge über die ganze Stadt und bringen das uns vertraute, bedeutungserfüllte Benennungssystem durcheinander.

Dieser Aufstand der Signifikanten, die in seinem Gefolge betroffenen Verkehrszeichen und Kommunikationsanzeigen, haben eine andere subversive Qualität als die Kulturrevolution auf der Ebene politischer Signifikate. Sie bedürfen weder des politischen Bewusstseins noch einer organisierten oder spontanen Massenbewegung, um Verwirrung zu stiften. Baudrillard unterscheidet diese wilden Graffiti von den sozio-kulturell kontrollierten City Walls und Wandmalereien, die trotz ihrer Herkunft aus den Ghettos der ethnischen, rassischen und sonstigen Minderheiten eine Rolle als geduldete Protestkunst spielen dürfen. Die Initiative für sie komme von oben, weil sie ein mit kommunalen Subventionen zu Wege gebrachtes Unternehmen der urbanen Innovation und Animation ist.

Ihre Demokratisierungs-Ideologie zielt darauf ab, die Bevölkerung mit Kunst vertraut zu machen, die Kunst aus den Galerien und Museen herauszuholen, den Kreis der Kenner zu vergrößern und eine Umweltpolitik zu betreiben, die die bestehende urbane Architektur künstlerisch dekoriert, ohne sie wirklich verändern oder abreißen zu müssen. Der an die Architektur verlorene, meist in die Peripherie verlagerte Freiraum der Individuen, die marginalisierte Öffentlichkeit der Kinder, Alten und Erholung Suchenden wird kompensiert durch ein urbanes Design, das den Restraum auf Grünzonen, Kulturhäuser, Malwände und Straßentheater verteilt.

Die Graffiti hingegen, von Baudrillard gleichsam als eine Gegen-Initiative von unten, außerhalb der offiziellen Kultur, vorgestellt, respektieren die zugewiesenen eingegrenzten Räumlichkeiten nicht. Sie entgrenzen die verordneten Nischen, halten sich nicht an die den kommunalen Wandmalern überlassenen Flächen, sie besudeln sie, vergessen sie, sie laufen quer. Sie setzen sich in einem totalen, erogenisierenden Zugriff über den sozial zerstückelten Raum hinweg und nehmen von ihm Besitz wie die Tätowierung, die tendenziell vom nackten zum völlig dekorierten Körper fortschreitet. Das Graffiti läuft von einem Haus zum nächsten, von der Wand eines Wohnhauses zur nächsten, von der Wand über das Fenster oder die Tür oder über die Scheibe der U-Bahn, über den Bürgersteig, es greift übereinander, kotzt sich aus, überlagert sich. Die von den Begrenzungen der Architektur, der Plätze und Straßen befreite Fläche manifestiert in den wilden Graffiti eine Verunendlichung und Verzeitlichung der Erfahrung, die so nachdrücklich sonst nur im anarchischen Gestaltungsprozess der Art Brut zu finden ist. Auch hier gibt es den Antrieb, Format und Rahmen der Zeichenfläche zu mißachten, über den Rand des Bildes hinauszuzeichnen, sich einer Papierrolle zu bedienen und letztlich den zur Verfügung stehenden Lebensumraum restlos mit Zeichen und Ornamenten auszufüllen.

Wir finden bei Artbrutisten und Graffitisten einen von keiner Rahmenfunktion, keiner geschlossenen Form, keiner Werkvorstellung eingeschränkten Zeichenprozess, sondern jene Offenheit und Unendlichkeit eines Möglichkeitsfeldes (Umberto Eco), auf die die moderne grenzüberschreitende Ästhetik so viel Aufmerksamkeit verwendet. Sekundär oder völlig dem Rezipienten überlassen ist auch die Ebene der Signifikate. In der Art Brut sind wir im Grenzfall mit den unfreiwilligen Hieroglyphen des Autismus, Negativismus und der individuellen Mythologien konfrontiert. In den sich kulturell bewusst ausklinkenden Graffiti stoßen wir auf die Sinnverweigerung, die Leere und den Nihilismus ihrer Signifikanten, auf ein Linguistisches Ghetto (Baudrillard) inmitten einer von sinnerfüllten Zeichen determinierten Mehrheitskultur. Diese selektive Betrachtung sieht davon ab, dass es in der terminologisch sehr weit und unscharf gefassten Art Brut und Graffiti-Kunst sehr wohl sinnerhaltende, sinnstiftende Zeichen gibt, die den sinnentleerten oder bewusst leeren überstehen. Worauf es bei diesem Vergleich ankommt, ist das gemeinsame Element in der prozesszentrierten Wirklichkeit beider Kunstarten: dass sie zuerst und vor allem Zeichen und Bilder setzen von der Existenz der Zeichner und Bildner. Entscheidend für sie selbst ist nicht das eventuelle was ihrer Mitteilungen, sondern dass etwas mitgeteilt wird und damit ein in seiner Reduktion zweifellos radikaler, häufig brutaler und selten ungefährlicher Akt der Daseinsbekundung (logisch betrachtet ein Existenzialurteil) stattfindet, dessen Sinnleere nicht in Sinn interpretativ verfälscht werden kann. Der Aufstand der sinnleeren Signifikanten in den wilden Graffiti und die Unheimlichkeitsgefühle auslösende schizophrene Bildnerei lösen auf der Seite der semantisch konditionierten Rezeption Verwirrung aus. Sie wird mit literarischen Metaphern der Weltabkehr, mit Strategien kultureller Ausgrenzung oder soweit möglich durch Vereinnahmungen in den Kunstkontext scheinbar rational bewältigt. Die Existenzmerkmale und Ego-Stempel hinterlassenden Signaturen-Graffiti, die tags und pieces, sind aus den Umgangsformen der heutigen Urbanität nicht mehr wegzudenken, aber man hat sich auch noch nicht an sie gewohnt. Keine große Stadt kann nur heile Welt sein, nicht einfach sauber und gut ..., die große Stadt ist immer Maßstab und Moloch zugleich. Zu ihr gehört das Chaos, die Instabilität, aus der heraus erst das Neue entstehen kann.

So konnte dem Reduktionismus der Graffiti am Ende eine intellektuelle Apologie zuwachsen. Die Graffitisten waren die neuen urbanen Wilden, die die von der Zeichenüberproduktion der Medien und Werbung manipulierte Großstadt mit einer urbanen Ethnographie überziehen und verunsichern. Die Regression auf Signaturen und tautologische Zeichen ist letztlich keine Domäne der Subkultur mehr. Auch die professionelle Kunstszene ist auf die nackte Daseinsform der Signatur verfallen, wenn man an die ironischen Wandbeschriftungen Ben Vautiers im Sinne von "Ich signiere also bin ich" oder an die Echtheitszertifikate der nicht mehr eigenhändigen Concept Art denkt. Indem Vautier alles signiert, was ihm vor Augen kommt, hat er die Signatur überflüssig gemacht und den Künstler als Existenzform zu Grabe getragen. So schlimm muss es in den urbanen Graffiti nicht kommen, wenn sie es außerhalb der legitimen Kultur und des Establishments des Kunstmarktes aushalten und in Frage stellen, was bis dahin kulturelle Selbstverständlichkeit war.

Literatur :

Vgl. Johannes Stahl (Hg.): An der Wand, Graffiti zwischen Anarchie und Galerie, Köln 1989, S. 56f.

Jean Dubuffet. Die Malerei in der Falle, Antikulturelle Positionen, Schriften Band I, hrsg. v. Andreas Franzke, Bern-Berlin 1991, S. 82.

S. 92f.

S. 109.

Ebd.

S. 115.

S. 114.

S. 96.

Stahl, S. 89.

Georg Simmel, Die Mode. In: Philosophische Kultur, Gesammelte Essays, Leipzig 1911, S. 50.

Jürgen Becker u. Wolf Vostell (Hrsg.): Happenings. Fluxus Pop, Pop Art, Nouveau Realisme, Reinbek 1965, S. 201, 199. Vgl. die Kommentare von Georg Jappe, Manfred Schneckenburger u. Jean-Christophe Amman in: Kunstforum, Bd. 50, 4/82, S. 50-55.

Stahl, S. 46-61.

Immer wieder taucht das Wort NO! ... im Kontext mit Pin-ups, mit Fotos von Nazigreueln und Kriegsnot oder allein als Schriftzeichen im Bild, in der Grafik, geschnitten in Wellpappe auf. Bruce Lurie & Seymour Krim: No! art. Pin-ups, Excrement, Protest, Jew-Art, Berlin-Köln 1988, S. 121.

Jean Baudrillard: Kool Killer oder der Aufstand der Zeichen, Berlin 1978, S. 30.

Ebd.

S. 26.

S. 31.

S. 31, 34.

S. 34.

Ebd.

Umberto Eco: Das offene Kunstwerk, Frankfurt a.M. 1973, S. 55f, 156.

Eberhard Sens: Der Traum von der Metropole. Zur neuen Sehnsucht nach Urbanität. In: Ästhetik und Kommunikation, H. 61/62, Jg. 16, 1986, S. 22.

Vgl. Dieter Daniels: Mein Name, als wäre er auf den Mond geschrieben. In: Stahl, S. 110f.

Museum Art Brut Lausanne

«Art Brut» ist Kunst von Leuten, die aus irgendeinem Grund der kulturellen Konditionierung und dem sozialen Konformismus fern blieben : Vereinsamte, Sonderlinge, Patienten psychiatrischer Kliniken, Häftlinge, Aussenseiter aller Art. Diese Bildner haben für sich selbst geschaffen, abseits vom Kunstbetrieb in Schulen, Kunstgalerien und Museen, und so entstanden Werke ureigenster Art, nach Konzeption, Sujet und Ausführung in hohem Masse originär, ohne jedes Zugeständnis an Tradition oder Mode.